Hans Witte (1881 – 1925)

Physiker, Lehrer, Demokrat

 
von Rudolf G. A. Fricke

„Er war hochbegabt, willensstark, hatte im Kriege ein Auge verloren und litt infolge dieser Verwundung oft unter großen Schmerzen. Er spürte "der Zeiten ungeheuren Bruch"… Er war ein Mann der große Geistesgaben besaß und Gutes gewollt hat, aber durch sein Temperament und sein Leiden zu einer Heftigkeit getrieben wurde, die seiner Sache schadete.“

„… ein guter Mensch, … ein Gelehrter, Dichter und Komponist…  Sein Leben stand turmhoch über alle Kleinheit.“

Als Physiker leistete Witte Bedeutendes, indem er die Frage um die Existenz eines Weltäthers zu einem gewissen Abschluss brachte. Folgenreich, aber von geringer Breitenwirkung, war seine Kritik gegen die Glaubenslehre der braunschweigischen evangelischen Kirche. Als führender Reformer griff er im Freistaat Braunschweig in die Kämpfe um die Schulreform ein. Als überzeugter Republikaner kämpfte er nach dem ersten Weltkrieg für einen Neuaufbau Deutschlands mit demokratischen Staatsstrukturen.

 

Hans Hermann Julius Witte wurde am 24. Oktober 1881 in Wolfenbüttel geboren. Er war gerade erst sechs Jahre alt geworden, als der Vater starb. Die Mutter, die ihre Lebensführung jetzt ganz dem Wohlergehen und dem Fortkommen ihres Sohnes unterordnete, wurde zu einer sein ganzes Leben andauernden wichtigen Bezugsperson für ihn.

Witte besuchte das Wolfenbütteler Herzogliche Gymnasium Große Schule. Dort wurde er ein Schüler der berühmten Physiker Julius Elster (1854-1920) und Hans Geitel (1855-1923). Von ihnen für die Naturwissenschaften und die Mathematik begeistert, von modernen Fragestellungen der theoretischen Physik gefangen, wandte er sich nach dem Abitur – Ostern 1900 – dem Studium der Physik und Mathematik zu: 5 Semester in Heidelberg und 6 Semester in Berlin.

Die Weltäther-Frage

Im 17. Jahrhundert hatten sich die Naturwissenschaftler ein Weltbild geschaffen, in dem sich alle Phänomene auf mechanische Vorgänge zurückführen ließen. Schall zum Beispiel breitet sich aus, indem die Luft zu Wellenbewegungen angeregt wird und sich diese Wellenbewegung in der Luft fortpflanzt. Als dann [1678] Huyghens (1629-1695) das Licht als Wellenerscheinung identifizierte, man aber wusste, dass Licht auch einen luftleeren Raum durchdringt, stand man vor einem Dilemma: „Eine Welle ohne etwas Materielles, das die Wellenbewegung ausführt und weiter leitet, war [nach der damaligen Vorstellung] ein Unding.“ Und so postulierte man einen den gesamten Raum ausfüllenden Stoff als Übermittler der Wellenbewegung. Man gab ihm den Namen Äther (gr. Aitär = blauer Himmel).

Durch Arbeiten von Maxwell (1831-1879), in denen eine Verwandtschaft zwischen dem Licht, magnetischen und elektrischen Erscheinungen theoretisch hergeleitet worden war, sowie dem experimentellen Beweis dieser Herleitung durch Hertz (1857-1894), erfuhr die Diskussion um den Weltäther in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine deutliche Ausweitung, indem man auch die Elektrizität mit mechanischen Vorgängen zu erklären versuchte.

Maxwell konnte zwar Bewegungen elektrischer und magnetischer Felder einigermaßen schlüssig mit Spannungszuständen in dem Weltäther erklären. Der Einsatz des Äthers als Instrument, Fernkräfte mit Nahwirkungskräften zu beschreiben, wollte jedoch nicht vollständig gelingen; es gab Widersprüche in den Eigenschaften die man dem Äther zuschrieb. Einige Betrachtungen führten beispielsweise zu der Grundannahme, dass er nie von einem Körper mitgerissen wird, sondern diesen siebartig durchdringen muss; andere Erscheinungen waren wiederum nur mit Deformationen im Äther zu erklären. Letztendlich gab es auch Versuche, wie in den 1880er Jahren von Michelson (1852-1931) und Morley (1838-1923), die Existenz eines Weltäthers experimentell zu beweisen – alles jedoch ohne den erhofften Erfolg.

Max Planck (1858-1947), der seit 1889 am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut lehrte und bei dem Hans Witte seit dem Wintersemester 1902 studierte, gehörte zu den einflussreichen Wissenschaftlern, die die Weltäthertheorie in Vorlesungen und Seminaren thematisierte, sich auch mit Widersprüchen in der Äthertheorie auseinandersetzte. Und so war es wohl vorhersehbar, dass Hans Witte, als er im Frühsommer 1903 an Planck mit der Frage nach einem Dissertationsthema herantrat, von diesem mit einer entsprechenden Aufgabenstellung konfrontiert wurde. „Planck schlägt mir vor,“ schrieb Witte am 10. Juni des Jahres an Elster und Geitel in Wolfenbüttel, „die kurz vor Pfingsten im Kolleg besprochenen Versuche, die Maxwellschen Gleichungen durch die Bewegung eines kontinuierlichen Äthers zu erklären, weiter zu verfolgen, um entweder die Möglichkeit oder die Unmöglichkeit einer solchen Auffassung darzuthun… Die Arbeit, sagte er, sei nicht ganz einfach; die Hauptsache wäre, ob ich mich für die Sache interessierte. Das konnte ich nur bejahen. Er frug sogar zweimal danach, und damit hat er auch sicher ganz Recht. Geschrieben sei über die Sache noch nicht viel, deshalb sei es eben nötig, dass die Theorie einmal durchgeführt werde. Gemacht werden müsste die Arbeit mal; natürlich sei es, worauf er ausdrücklich hin wies, sehr wohl möglich, dass das Resultat ein negatives sein würde (dass sich also die Widersprüche mit der Erfahrung einstellten).“

Witte widmete sich nun intensiv der Ätherfrage. Um sich in die Sache einzuarbeiten, analysierte er zunächst den Istzustand der Kenntnisse resp. Annahmen über die Äthereigenschaften. In seiner Dissertation ordnete er alle bekannten Äthertheorien nach Gattungen und Gruppen um sie dann einer kritischen Bewertung ihrer Tauglichkeit zu unterziehen.

Eine erste grundlegende Entscheidung fällte Hans Witte zur Struktur des Äthers. Hier standen zwei Varianten im Raum: Ein diskontinuierlicher Äther, das heißt aus Teilchen bestehend und ein sich teilchenlos, vollkommen elastisch präsentierendes, kontinuierliches Medium. Zur Annahme eines sich aus kleinsten Teilchen, Atomen oder auch subatomaren Teilchen zusammensetzenden Äthers stellte er nach einigen mathematischen Ableitungen fest: „Die Hilfsannahme der Ätheratome kann … nicht … mathematisch formuliert werden, ohne daß man eine beträchtliche Anzahl anderer vollkommen willkürlicher Hilfshypothesen hinzufügt, die … in keinem einzigen Gebiete der Physik Vorteile oder Vereinfachungen bringen…“ „Es steht … weder in der Elektrodynamik noch … in den anderen Gebieten der Physik ein Vorteil von der Einführung des diskontinuierlichen reinen Weltäthers zu erwarten… Infolgedessen verlangt …[die Erkenntnis,] daß man auf die Einführung des diskontinuierlichen reinen Weltäthers verzichtet.“

Nachfolgend konzentrierte er sich nun ganz auf den kontinuierlichen Äther. Indem er jetzt die Gruppen und Gattungen einer kritischen Betrachtung nach einzelnen Aspekten der Ätherfunktion unterzog, gelangte er zu Ausschlüssen untauglicher Gruppen und Gattungen. Nach etwa einem Jahr der so verfolgten Strategie schrieb er an Elster und Geitel in einer Art Zwischenbilanz nach Wolfenbüttel: „Die mir von Planck bezeichneten Sachen hatte ich kurz nach Pfingsten heraus... Dann beschloß ich, die Untersuchung über die dabei auftretenden Druckkräfte gleich noch etwas weiter zu führen, sodaß ich nun erst mal wieder einige scharfe Nüsse zu knacken habe. Doch sind die Sachen relativ interessant. Es scheint, daß auch die mechanische Erklärung nur auf dem Boden einer Elektronentheorie … denkbar ist. Ob durchführbar, fragt sich aber. Jedenfalls bleibt auch für jede Elektronentheorie das bestehen: Soll 1) der Äther kontinuierlich sein … und 2) die Identifikation der Energie die Grundlage bilden, so scheiden von den 4 denkbaren Theorien alle bis auf eine aus... Das ist wenigstens etwas.
Dieser
[mechanischen Deutung, die einem elektrostatischen Potential zugewiesen wird] kommt man nun allmählich immer näher…“

Später fügte er in einer Publikation an: „Ist diese letzte übrig gebliebene mechanische Theorie der elektrischen Erscheinungen mit einem kontinuierlichen reinen Äther durchführbar oder nicht?“ … „Fällt die Antwort bejahend aus, so ist damit die mechanische Erklärung der Elektrodynamik gefunden; im anderen Falle sind die elektrischen Erscheinungen durch einen kontinuierlichen reinen Äther nicht mechanisch erklärbar.“ Mit der Betrachtung der Kräfteübertragung zwischen zwei im Raum verteilten Elektronen gelang Witte schließlich der Durchbruch in der Ätherfrage.

In guter Näherung gilt für die Kraft zwischen den Ladungen das Coulombsche Gesetz F ~ . „Sollte die [Äther]theorie durchführbar sein, so müßte sie … dieselbe Abhängigkeit der Kraft von der Entfernung liefern“ schrieb er, um fortzufahren mit der Bemerkung: „Die Rechnung ließ sich in der Tat ausführen.“ Es folgte eine lange Reihe mathematischer Ableitungen an deren Ende das Ergebnis stand: F ~ , „… das mit dem Coulombschen absolut unvereinbar ist“, konstatierte er. Nahm er die gleiche mathematische Ableitung unter der Voraussetzung eines diskontinuierlichen Äthers vor, so erhielt er die Coulombsche Kraftbeziehung bestätigt. Die Existenz eines Äthers war also nur denkbar, wenn man „die Hypothese zuläßt: Der reine Weltäther … ist im ganzen Weltall diskontinuierlich konstruiert.“ Sogleich erinnerte Witte aber daran, dass ein diskontinuierlicher Äther mit vielen beobachtbaren Erscheinungen nicht in Einklang zu bringen war. „Infolgedessen verlangt das … [Ergebnis], daß man auf die Einführung des diskontinuierlichen reinen Weltäthers verzichtet. Gibt man aber den diskontinuierlichen reinen Weltäther auf, so verzichtet man … auf den Weltäther überhaupt!“ An Elster und Geitel schrieb er nach dieser Erkenntnis am 20. August 1904: „Die Pfingsten 1903 gestellte Aufgabe ist insofern erledigt, als nachgewiesen ist, daß die von Planck im Sommersemester 1903 z.Teil vorgetragene und öffentlich zur Bearbeitung ausgebotene Äthertheorie nicht geht, auch nicht wenn man Elektronen einführt... Planck scheint zu meinen, man müsse die Theorie nach diesem Schlage aufgeben.“

In seiner Dissertation verarbeitete Hans Witte diese Erkenntnis über die Existenz, oder besser gesagt Nichtexistenz eines Äthers aber noch nicht. Als er nämlich zwischenzeitig Planck seine weit ausholend geführten Grundlagenbetrachtungen zu den mechanischen Theorien der Elektrodynamik und dem Bemühen alle denkbaren mechanischen Erklärungsversuche elektrischer Erscheinungen darin einzuordnen vorstellte und dieser dies für ihn überraschend als bedeutsame Arbeit wertete, konzentrierte er seine Ausführungen in der Dissertationsschrift darauf. Den Abschluss hier setzte er mit der Erkenntnis, dass es sich bei dem Licht eindeutig um eine Wellenerscheinung handelt, die sich in senkrecht zueinander liegenden Schwingungen eines elektrischen und eines magnetischen Feldes manifestiert. „Gleich hier möge die Bemerkung Platz finden, dass die Theorien dieser Art … zu einer Zeit veröffentlicht sind, als man die fundamentale Streitfrage noch nicht als entschieden betrachten konnte“, unterstrich er im Schlusssatz den wissenschaftlichen Wert seiner Ausführungen.

Seit dem 29. Juli 1905 zum Dr. phil. promiviert, ging Witte mit seinem „vernichtenden Beweis gegen die Existenz eines kontinuierlichen Weltäther“, wie er es bezeichnete, aber auch eines Äther überhaupt, an die Öffentlichkeit. Schon im November 1905 hatte er eine Publikation abgeschlossen, die weit über den Inhalt der Dissertation hinaus ging. Witte profilierte sich damit zu einem Experten auf dem Gebiet der Ätherfrage. Auf diversen Naturwissenschaftlerversammlungen, wie beispielsweise auf der der Deutschen Naturforscher und Ärzte am 20. September 1908 in Stuttgart, gab man ihm Raum, um über seine Arbeit zur Ätherfrage zu referieren. Seine Gedankengänge und Beweisketten stellte er auch in verschiedenen wissenschaftlichen Publikationsorganen vor; immer fügte er neue Aspekte hinzu. Seine Ausführungen stießen in der Fachwelt auf großes Interesse. Die Diskussion um die Existenz eines Weltäthers war damit aber noch lange nicht beendet. Von vielen Seiten kamen Beiträge für und wider den Weltäther; auch gab es verschiedentlich kritische Stimmen zu Wittes Publikationen.

Einen Disput führte Hans Witte mit Vilhelm Bjerkness (1862-1951). Dieser hatte sich 1909 mit einer Analogie zwischen pulsierenden Teilchen und elektromagnetischen Erscheinungen beschäftigt und darin die Möglichkeit zur Erklärung der Elektrodynamik in einem diskontinuierlichen Äther gesehen. In einer mathematisch geführten Analyse der Gedankengänge Bjerkness‘ konnte Witte jedoch Ungenauigkeiten, Fehler und Widersprüche aufzeigen und damit die Untauglichkeit dieser neuen Ätherinterpretation zeigen. Bjerkness gab aber nicht auf. Er versuchte seinerseits die von Witte angeführten Kritikpunkte zu entkräften. Witte konterte schließlich genervt: „Ich bedaure, daß ich genötigt bin, auf diese Teilfrage … noch ein drittes Mal ausdrücklich einzugehen… Um einer fruchtlosen weiteren Ausdehnung jener Diskussion … vorzubeugen, sei mir … erlaubt, zu bemerken, daß ich mich auf eine … Fortsetzung nur dann einlassen könnte, wenn … sachlich neue Gesichtspunkte vorgebracht werden sollten. Über die von Herrn V. Bjerkness angerührten Fundamentalfragen … weiter zu diskutiere, scheint mir unnütz, weil eine Einigung darüber bei der Verschiedenheit der Standpunkte wohl nicht zu erwarten steht.“

Beide gingen in dem Fachstreit recht polemisch miteinander um. Mit einem „Schlusswort an Herrn V. Bjerkness“ beendete Hans Witte 1912 schließlich die Diskussion. Dies nicht, ohne noch einige bissige Äußerungen einfließen zu lassen.

1913 flammte die Diskussion um den Äther noch einmal kräftig auf, als der französische Physiker Sagnac (1869-1928) von einem Experiment berichtete, mit dem er eindeutig die Existenz eines Weltäthers bewiesen habe.

Der Grundgedanke bei dem Experiment war, dass Lichtstrahlen, die sich relativ zum Äther bewegen, in ihrer Ausbreitungsgeschwindigkeit beeinflusst werden. Man musste also nur einen Lichtstrahl sich entgegen der Ätherbewegung, einen Lichtstrahl sich mit der Ätherbewegung fortpflanzen lassen und nach gleicher Wegstrecke die jeweilige Durchlaufzeit oder bei gleicher Zeit die zurückgelegten Wegstrecken miteinander vergleichen. Diesen Gedanken hatten bereits Michelson und Morley bei ihren berühmten aber letztendlich erfolglosen Experimenten genutzt. Sagnac nun, hatte eine Anordnung entwickelt, in der zwei kohärente Lichtbündel (gleiche Wellenlänge und Schwingungsart) eine kreisähnliche Strecke, über Spiegel geleitet, gegensinnig durchlaufen. Am Zusammentreffpunkt entstanden durch die Überlagerung der beiden Lichtbündel Interferenzstreifen. Ließ er nun die Anordnung um eine Achse senkrecht zur Umlaufebene der Lichtbündel rotieren, so verschoben sich die Interferenzstreifen. Die Verschiebung der Interferenzstreifen erfolgte proportional zur Rotationsgeschwindigkeit aber auch proportional zu einer Veränderung der Weglängen für die Lichtstrahlen. Die Verschiebungen der Interferenzstreifen stimmten sehr gut mit den theoretisch berechneten Werten überein, die sich ergaben, wenn man die Lichtbewegung in Form seiner Geschwindigkeit einmal gegen die Ätherströmung und einmal mit der Ätherströmung verlaufend betrachtete. Sagnac zog daraus den Schluss, dass die Streifenverschiebung die Relativgeschwindigkeit des System zum Äther misst und somit die Existenz eines Weltäthers beweist.

Hans Witte analysierte das Experiment in allen Einzelheiten. Er konstatierte: „Die Arbeit von Herrn Sagnac ist … von sehr großer Wichtigkeit. Ich denke nicht daran, den experimentellen Teil der Arbeit im geringsten in Zweifel zu ziehen, im Gegenteil halte ich die Methode selber noch in verschiedenen Richtungen für entwicklungsfähig.“ Stellte danach aber fest: „Dagegen erscheinen mir die theoretischen Grundlagen und demgemäß auch die Schlußfolgerungen nicht mit Notwendigkeit die von Herrn Sagnac gegebene Deutung zu erfordern.“

Er fand Fehlinterpretationen Sagnacs und so führte seine Analyse dazu, dass auch dieses Experiment keinen Beweis für, sondern gegen die Existenz eines Äthers lieferte. Er argumentierte unter anderem damit, dass es bei der Rotation in einer Richtung für den durchlaufenden Lichtstrahl zu einer Verkürzung, in der entgegengesetzten Richtung zu einer Verlängerung des Lichtweges kommt und weil die Lichtgeschwindigkeit eine endliche ist, die beobachtete Interferenzverschiebung zwangsläufig auftreten müsse. „Infolgedessen ist [meine] Behauptung richtig“, schrieb er, „Der Effekt beweist die Existenz des Äthers nicht.“

1914 erschien von Hans Witte beim Braunschweiger Verlag Vieweg eine Publikation mit dem Titel „Raum und Zeit im Lichte der neuen Physik“. Der Beitrag ist ein Versuch Wittes, die immer stärker in den Blick der Menschen geratende Relativitätstheorie von Albert Einstein möglichst allgemeinverständlich zu beschreiben.

Quasi bis Einstein waren Raum und Zeit zwei Größen, die als unveränderbar (eindeutig-festliegend-absolut) angesehen wurden: „Im Raume und in der Zeit spielt sich alles ab, was in unserer realen Außenwelt wirklich „ist“ oder „existiert“, alles Sein und alles Beharren… Raum und Zeit sind etwas Absolutes, sie sind eben „Der Raum“ und „Die Zeit“.“ Die Relativität stellte nun aber auch diese Festlegungen in Frage.

Für die Erklärung der Relativität der Zeit nutzte Witte eine von ihm erdachte Maschine. Den Grundaufbau bildete ein langer Kasten, auf dem in gleichen Abständen 5 Zeigeruhren montiert waren. Diese waren rückseitig über eine Stange miteinander verbunden und wurden von ihr synchron bewegt. Zu beiden Seiten des Kastens stehen senkrecht zwei gleiche Stufenscheiben mit je drei Laufrinnen im Verhältnis ihrer Durchmesser von 3:4:5. Über jede der drei Radstufen ist eine verbindende Schnur gelegt sodass bei Drehung eines Rades sich das andere synchron mit bewegt. Der Abstand zwischen den 5 Uhren auf dem langen Kasten war so gewählt, dass sich bei einer vollen Umdrehung der Stufenräder die mittlere Schnur genau um den Abstand zwischen den Uhren der Endposition verschob. Wegen der Abstufung der Scheibendurchmesser bewegte sich die Schnur um die größeren Räder genau um einen Uhrenabstand weiter und die Schnur über den kleineren Rädern genau um einen Uhrenabstand verkürzt.

Setzte er nun die Schnurläufe den Lichtstrahlen gleich und betrachtete die Mittlere als Lichtbewegung im ruhenden System, so repräsentierte die äußere Schnur die Lichtausbreitung in einem mitbewegten Äther und der innere Schnurlauf die Lichtausbreitung entgegen einer Ätherbewegung. Wollte er nun beispielsweise demonstrieren, dass ein Lichtstrahl, der sich zunächst mit einer Ätherströmung und anschließend entgegen einer Ätherströmung ausbreitet letztendlich nicht gleichzeitig zu einem Lichtstrahl ein Ziel erreicht, der sich bei angenommener Ätherstille ausbreitet, so setzte er zunächst über der ersten Uhr je eine Markierung auf die Schnüre. Leicht einsichtig ist, dass sich die obere Markierung etwas schneller und die untere Markierung etwas langsamer bewegt als die Markierung auf der mittleren Schnur. Zwar nicht die Maschine, aber die damit demonstrierten Betrachtungen zur Relativität der Zeit finden sich später in zahlreichen Publikationen anderer Autoren über die Relativitätstheorie wieder. Die Publikation Wittes selbst, wurde so stark nachgefragt, dass sie 1920 in einer dritten Auflage erschien.

              Die Maschine hatte Witte bereits anlässlich eines Vortrages beim Braunschweiger Verein für Naturwissenschaft zum Einsatz gebracht,
ebenso in seinen Vorlesungen an der Technischen Hochschule.
       

Ein tiefer Lebenseinschnitt

1914 brach der erste Weltkrieg aus. Wie viele andere auch, meldete sich Witte unmittelbar nach dem Ausruf der Mobilmachung als Kriegsfreiwilliger. Schon kurze Zeit später befand er sich im direkten Kriegseinsatz. Mit seiner Einheit war er an den legendären Kämpfen (6. bis 9. September) am Petit Morin beteiligt. Hans Witte erlitt dabei eine schwere Verwundung am Kopf, mit Verlust des rechten Auges. Er wurde in das Lazarett von Marburg verbracht. Von einem offenbar unbändigen Lebenswillen getragen, suchte er trotz heftigster Schmerzen bereits wenige Wochen später die Rückkehr zu wissenschaftlicher Arbeit.

Noch unmittelbar vor dem Eintritt in den Kriegsdienst hatte er eine Arbeit über das Relativitätsprinzip fertig gestellt und das Manuskript an den Verleger gesandt. Wegen des Kriegseinsatzes konnte er die Druckfahnen jedoch nicht mehr durchsehen, was dann sein ehemaliger Lehrer und jetziger Kollege am Gymnasium Große Schule, Hans Geitel, für ihn übernahm. In einem Schreiben an den im Lazarett befindlichen Witte berichtete Geitel von der übernommenen Arbeit, worauf dieser antwortete, beziehungsweise er seine Mutter für ihn schreiben ließ:

„Nichtsdestoweniger würde es mir eine außerordentliche Freude sein, wenn Sie … mir den Korrekturbogen der Relativitätsarbeit nach hier schicken wollten. Ich würde sehr viel Vergnügen daran haben und bitte recht sehr um Zusendung…

Mit der in Rede stehenden Publikation hatte Hans Witte den Versuch unternommen, die seit den Veröffentlichungen von Albert Einstein (1879-1955) in den Blick geratene Relativitätstheorie möglichst allgemeinverständlich zu beschreiben. Quasi bis Einstein waren Raum und Zeit zwei Größen, die als unveränderbar (eindeutig-festliegend-absolut) angesehen wurden: „Die Relativität stellte nun aber auch diese Festlegungen in Frage“, schrieb er; zudem bedurfte es bei der Relativitätstheorie keines Weltäthers.

Für Erklärungen zum Zeitbegriff und die Demonstration der Unwirksamkeit eines Äthers nutzte Witte eine von ihm erdachte und in Vorlesungen an der Braunschweiger Technischen Hochschule erprobte Maschine mit einem System bewegter Uhren. Zwar nicht die Maschine, aber die damit demonstrierten Betrachtungen zur Relativität der Zeit finden sich später in zahlreichen Publikationen anderer Autoren über die Relativitätstheorie wieder.

   
                                               

Zurück ins Leben

Nachdem die Wunden der Kriegsverletzung einigermaßen verheilt waren, verlegte man Hans Witte in ein Wolfenbütteler Militärlazarett. Einen hervorzuhebenden Anteil an der hier hauptsächlich erfolgenden psychischen Stabilisierung hatte der Militärarzt Ernst Laqueur (1880–1947). Witte bezeichnete den Arzt, der später als Mitbegründer der modernen Endokrinologie sowie als Mitentdecker der Hormone Östrogen und Testosteron berühmt wurde, in einer Publikation als Freund und hob seine Unterstützung beim Genesungsprozess hervor.

Unter dem Einfluss Laqueurs, wohl von diesem initiiert um die eingeschränkte Sehfähigkeit psychisch zu therapieren, befasste sich Hans Witte wissenschaftlich mit dem „Sehraum“, am Beispiel der subjektiven und objektiven Größenbeurteilung von Himmelskörpern. Die dabei durchgeführten Studien veröffentlichte er aber erst viele Jahre später.

Im September 1916 wurde Hans Witte, zuvor dekoriert mit dem Eisernen Kreuz, als „untauglich“ aus dem Kriegsdienst entlassen. Schmerzattacken, aber auch Schwindel- und Ohnmachtsanfälle waren weiterhin seine Begleiter. Der nun behandelnde Braunschweiger Nervenarzt Siegfried Loewenthal (1869-1951) diagnostizierte deshalb die berufliche Dienstunfähigkeit, sodass sich eine direkte Rückkehr in den Schuldienst nicht zur Debatte stellte. Erst im März 1917 stimmte Dr. Loewenthal einer teilweisen Wiederaufnahme der Lehrertätigkeit zu. Witte nahm sogleich auch Kontakt zur Hochschule auf und bot Vorlesungen in Analytischer Mechanik, Naturwissenschaft und Erkenntnistheorie, Theorie des Elektromagnetismus sowie Einführung in das Relativitätsprinzip an. Diese Aktivitäten wurden jedoch immer wieder unterbrochen von Phasen der Dienstunfähigkeit.

Deutschland, o Deutschland

Über die politische Einstellung Wittes aus der Vorkriegszeit ist nichts bekannt. Ein Vortragszyklus über „Das deutsche Drama der Gegenwart“ in Blankenburg, sowie ein Aufsatz über den winterlichen Harz in der „Zeitschrift für Heimatkunde und Heimatliebe – DEUTSCHLAND“, lassen das Bild von einem seiner Heimat schwärmerisch verbundenen Menschen entstehen. Vielleicht war es dann das Erleben des Krieges und das dem Tode entkommen sein, das ihn zu einem politisch agitierenden Menschen werden ließ.

Das Ende des Krieges musste nach seiner festen Überzeugung in den Beginn eines auf Toleranz und Freiheit begründeten republikanischen Staates münden. In mehreren veröffentlichten Gedichten – zum Teil auch von ihm vertont – brachte er leidenschaftlich seine Gefühle zum Ausdruck.

Mit einer klaren Positionierung für demokratische Staatsstrukturen trat er im Braunschweigischen auf mehreren Feldern reformerisch auf.

                   

Deutschland, o Deutschland wanke nicht,
Wenn Sturmwind braust und Aeste bricht!
Noch ragst du stolz
Mit grünem Holz,
Treibst Frühlingsknospen empor zum Licht.

 

Mochte dein Reichtum auch verwehn,
Schimmernde Kronen untergehn:
Du hast die Kraft,
Die Leben schafft,
Du lernst im Leiden nur fester stehn.

 

Wachse und blühe wieder neu,
Du Volk der Arbeit, Volk der Treu!
Vom Fleiße bekränzt,
Vom Geist durchglänzt,
Leuchte den Menschen stark, schlicht, fromm, frei!

     

Wider falschen Kirchenglauben

Sich als leidenschaftlicher Kämpfer für Toleranz und Freiheit präsentierend, versuchte er gleich zu Anfang der Weimarer Zeit die evangelisch-lutherische Kirche in der Braunschweiger Republik zu reformieren. Witte versuchte den Graben zwischen naturwissenschaftlichem Denken und christlicher Religion zu überbrücken. Er hielt die gängigen religiösen Anschauungen des evangelischen Bürgertums in der Landeskirche nicht mehr für tragbar. „Wir haben schmerzlich einsehen müssen, daß Kirchenglaube Lüge ist: Deshalb glauben wir heute nichts.“ „Laßt die alten Bekenntnisse fallen, legt den Grund frei, der ewig bleibt.“

Dies sind meine Ziele:

Wiedergeburt Deutschlands durch Erneuerung des Glaubens

Kampf gegen starren Bekenntnisglauben

Kampf gegen starre Bekenntniskirchen

Kampf gegen glaubenknechtende Kirchen

Kampf gegen glaubensfeindliche(religionsfeindliche) Wissenschaft

Kampf gegen glaubenleugnende Scheinwissenschaft

Christentum des Herzens, nicht des Verstandes

Christentum der Gesinnung und der Tat

Aufhebung der kirchlichen (konfessionellen) Gegensätze

Friede zwischen den Kirchen

Ein Volk, eine Kirche, ein Glaube!

Bis zur Novemberrevolution war die ev.-luth. Kirche praktisch Staatskirche gewesen. Die Kirchengewalt hatte beim Landesherrn gelegen und wurde vom Konsistorium verwaltet. Nach 1918 aber musste das Machtgefüge innerhalb der Landeskirche neu geregelt werden. Es entbrannten Richtungskämpfe im Wesentlichen zwischen zwei Lagern: Auf der einen Seite die „Freunde der evangelischen Freiheit“, die die politische Wende zur Republik bejahten, auch die Trennung von Staat und Kirche bis in die Schulaufsicht hinein. Auf der anderen Seite orthodoxe Lutheraner, die sich u. a. eine größere finanzielle Unabhängigkeit der Kirche wünschten und für eine in allen Fächern christlich geprägte Schule eintraten.

Nach einer Beschreibung der Braunschweiger Kirchengeschichte des Historikers Küssner 1987, spitzten insbesondere Wittes zum Reformationsfest 1919 veröffentlichten „99 Thesen wider den falschen Kirchenglauben“ diesen Widerstreit zu. Es kommt zum Zusammenprall beider Gruppen nach einem Vortrag Wittes im Braunschweiger Altstadtrathaus am 3.Februar 1920. Aussagen wie, „das deutsche Volk ist ein Haufe Fresser und Müßiggänger geworden, aller Laster voll“, wühlten das Kirchenvolk auf.

Im April 1920 musste eine dritte Auflage seiner kleinen Schrift gedruckt werden, bis Sommer 1921 sind etwa 4000 Exemplare verkauft. In mehreren Heften unter dem Titel „Der neue deutsche Glaube – eines Kriegers Vermächtnis“ erläuterte und ergänzte Hans Witte noch seine Kritik an den bestehenden Verhältnissen in der evangelischen Kirche. Letztendlich sei, nach Kuessner, Wittes Reformbestreben nicht theologisch, aber kirchenpolitisch bedeutsam gewesen. Es bildet sich in der Landeskirche eine dritte Kirchenpartei, die kirchliche Mitte.

Witte und das Schulwesen im Freistaat Braunschweig 1918-25

Die Sozialdemokraten, sowohl von der USPD als auch von der MSPD, strebten eine Vereinheitlichung des sich im 19. Jahrhundert außerordentlich verzweigenden Schulsystems an. Statt der bisherigen mittleren und unteren Bürgerschulen schuf man eine gemeinsame Volksschule. 1920 wurde das Schulgeld für Volksschulen abgeschafft sowie das Fach „Lebenskunde“ als Alternative zum Religionsunterricht eingeführt. Unter Kultusminister Sievers wurde das Entfernen von Kaiser- und Fürstenbildern aus den Schulen verordnet, die Einheitsschule zum Ziel erklärt und eine weitere Demokratisierung der inneren Schulorganisation auf den Weg gebracht. In sechs Punkten beinhaltete der so bezeichnete Sieverssche Kulturerlass auch Vorgaben für Unterrichtsinhalte, die auf Völkerverständigung, Frieden, Achtung Andersdenkender abzielten.

Hans Witte begrüßte die Schulreformen. Engagiert setzte er sich dafür im Berufsverband der Gymnasiallehrer, dem Philologenverein ein. Im sozialdemokratischen Presseorgan VOLKSFREUND äußerte er sich zur Schulfrage. Unmissverständlich warnte er vor reaktionären Bestrebungen orthodoxer Kirchenkreise: „Es scheint … als wolle die kirchliche Orthodoxie [einen] Kulturkampf …“

In der Tat war es so, dass reformpädagogische Veränderungen, wie die Einrichtung von Schulwerkstätten, Schulküchen, Schulgärten, Laboratorien, Schülerbüchereien, Schullandheimen und die Übertragung der Lehrerausbildung an die Technische Hochschule wohl eine breite Zustimmung fanden. Hingegen stießen Reformen der Linksparteien die den Einfluss des Bürgertums beschnitten und auf Unterrichtsinhalte Einfluss nahmen, auf heftigen Widerstand. Bis zum Ende der Weimarerer Republik wogte im Freistaat Braunschweig ein phasenweise irrational geführter Kulturkampf. Auswüchse des politischen Kulturkampfes lassen sich exemplarisch eindrucksvoll an der Einstellung des Dezernenten für das höhere Schulwesen, Dr. Ernst Stoelzel[1], aufzeigen, die in der zweiten Jahreshälfte 1920 durch das sozialdemokratisch geführte Kultusministerium erfolgte.

   

Der Fall Stoelzel

Stölzel war am 16. November 1882 in Braunschweig als Sohn eines Tischlermeisters geboren worden, hatte die Bürgerschule am Bültenweg und das Martino-Katharineum besucht und anschließend in Göttingen und Berlin klassische Philologie, Germanistik und Philosophie studierte. 1908 promovierte er und ging in Berlin als Gymnasiallehrer in Anstellung. Er scheint sich in Berlin als Befürworter von Einheitsschulen schulpolitisch engagiert zu haben [„Einheitsschule bedeutet für mich nur einheitliche Organisation und Zusammenfassung des historisch Gewordenen und Vorhandenen.“] und ist 1919 in die SPD eingetreten.

Zu Pfingsten des Jahres 1920 erfuhr er, bei einem Besuch seiner mittlerweile verwitwet lebenden Mutter, aus der Braunschweiger Presse von der Ausschreibung der Stelle eines Fachreferenten für das höhere Schulwesen – etwa Ende Mai bewarb er sich auf diese Stelle. Die Bewerbung wurde durch Indiskretionen eines Mitarbeiters in der Landesschulbehörde bekannt und es begann sich unter Mitbewerbern aus Braunschweig Widerstand zu rühren. Besonders massiv kam der Widerstand aus den Reihen des Philologenvereins. Hier formierte sich eine Gegnerschaft, die damit argumentierte Stoelzel sei kein Braunschweiger und darin gipfelte, dass der Philologenverein jegliche Zusammenarbeit mit einem Landesschulrat Stoelzel verweigerte.

In der nachfolgenden Zeit gab es diverse Aktionen gegen Stoelzel. Beispielsweise durch Presseberichte über Schulreformen die man mit seinem Namen in Verbindung brachte und öffentliche Äußerungen von Funktionsträgern wie dem Elternratsvorsitzenden des Elisabeth-Lyzeums, Dr. med. Mühlhausen. Dr. Mühlhausen sah sich als ein „entschiedener Feind“ Stoelzels und trat entsprechend in der Öffentlichkeit auf: „… daß ich Sie als Träger eines bestimmten, die Gesamtheit schädigenden Systems aufs schärfste bekämpfen muß und in aller Öffentlichkeit auch bekämpfe.“

Am 24. November 1920, mittags, erhielt Stoelzel eine Postkarte von diesem Dr. med. Mühlhausen mit der Einladung zu einer Elternversammlung für den gleichen Abend. Punkt 4 der Tagesordnung hatte den Titel „Darf Landesschulrat Dr. Stoelzel im Amte bleiben.“ Die kurzfristig Einladung, die Formulierung des Tagesordnungspunktes 4 und die bekannte Haltung Mühlhausens gegenüber Stoelzel war Grund genug für ihn der ergangenen Einladung nicht zu folgen. Auf der Protestversammlung der Elternschaft, im Konzerthaus, traten insgesamt 5 Redner (Hugo Bach, RA Weichsel, Dr. med. Mühlhausen, Pastor Götze und Postrat Stille) auf und ließen kein gutes Haar an den Schulreformen der linken Fraktion und dessen Vertreter Dr. Stoelzel.

Blieben die Angriffe hier noch unwidersprochen, berief die SPD für den 30. November des Jahres eine Gegenveranstaltung an gleicher Stelle ein. Ernst Stoelzel konnte, ohne Störungen fürchten zu müssen, in seiner Rede „Der Sturm auf das Landesschulamt“ die Begebenheit der Hetzjagd auf ihn darstellen. „Der Makel, der mir anhaftet, ist eben, daß ich der sozialdemokratischen Partei angehöre“, beurteilte er die Lage. Dr. Jasper stellte sich mit einer beeindruckenden Rede vorbehaltlos hinter die sozialdemokratischen Schulreformen und hinter Stoelzel.

Der Widerstand gegen Stoelzel – dem nach Betrachten aller zugänglichen Dokumente übrigens keinerlei Versagen in der Amtsführung nachzuweisen ist – setzte sich mit rational nicht mehr nachvollziehbaren Auswüchsen fort. Es erfolgten beim Staatsministerium für Volksbildung mehrfach Beschwerden; ein Mitarbeiter des Landesschulamtes kontrollierte die Zahl der Bleistifte auf Stoelzels Schreibtisch und bezichtigte ihn des Diebstahls. Der bei der Stellenbesetzung unterlegene Ernst Bach und Vorstandsmitglieder des Philologenvereins strengten gegen Stoelzel eine Anklage „wegen Erpressung von Aussagen und Amtsmissbrauch“ an. Er wird in erster Instanz zu 2 Monaten Gefängnis verurteilt, in der Berufung aber freigesprochen. Die bürgerliche Opposition im Landtag nutzte die erstinstanzliche Verurteilung Stoelzels zu dem Antrag, ihn „vorläufig seines Dienstes zu entheben.“

Stoelzel hat verschiedentlich wohl auch versucht, sich juristisch gegen die gegen ihn gerichteten Angriffe zur Wehr zu setzen. In einem Nebensatz seiner Rede vom 30. November 1920 spricht er zum Beispiel davon, dass sein Kontrahent Bach zu 300,- Mark Geldstrafe wegen Verleumdung verurteilt worden sei.

Als im Dezember 1924 unter Ministerpräsident Gerhard Marquordt (1881-1950) eine bürgerliche Landesregierung gebildet wurde, entließ Marquordt, zugleich Minister für Volksbildung, den Landesschulrat Stoelzel aus seinem Amt. Dieser zog (spätestens 1929) nach Berlin und soll hier die Leitung einer Schule übernommen haben. In einer Art Kehrtwende revidierte Volksbildungsminister Marquordt die unter sozialdemokratischer Regierung erfolgten Schulreformen. Die 1927 wieder in die Regierungsverantwortung zurückkehrenden Sozialdemokraten (Minister für Volksbildung Sievers) revidierten wiederum Marquordtsche Beschlüsse.

   

Philologenbund – Philologenverein

Die Lehrer waren in Berufsvertretungen organisiert (Philologenverein, Lehrerbund, Verein der Studienassessoren und Studienreferendare, …). Diese Berufsvertretungen arbeiteten mit der Landesschulbehörde zusammen. Beispielsweise konnten Sie Empfehlungen/Vorschläge für Stellenbesetzungen geben.

Hans Witte war Mitglied im Philologenverein. In einer Rückschau konstatierte er, dass der Philologenverein nach 1918 ein reges Vereinsleben entwickelte. Auf zahlreichen Sitzungen wurde über die Reformen des Schulwesens diskutiert; sowohl über die der neuen Machthaber als auch eigene Vorstellungen entwickelt. Mitglieder, die der SPD und der linksliberalen DDP zumindest nahe standen, gaben den Ton an. Kurz, der Philologenverein schien sich auf die neuen Verhältnisse im Land Braunschweig einzustellen. Die Stimmung kippte jedoch zur Mitte des Jahres 1920, als bekannt wurde, dass die Stelle des Landesschulrates für das höhere Schulwesen mit einem auswärtigen Bewerber besetzt werden sollte – jenem zuvor genannten Dr. Ernst Stölzel.

Als man seitens des Volksbildungsministeriums Stoelzel für den 28. Juni 1920 zu einem Vorstellungsgespräch einlud, initiierte der Mitbewerber OStD Hugo Bach im Philologenverein eine Protestresolution. Man argumentierte darin insbesondere damit, dass Stölzel kein Braunschweiger sei und somit die regionalen Gegebenheiten nicht kenne. Stoelzel, der von dieser Protestresolution erfuhr, suchte darauf das Gespräch zum Vorstand des Philologenvereins und landete bei der Ferienvertretung, dem DVP Mitglied Prof. Saftien. Dieser kontaktierte darauf nicht in Ferienaufenthalten befindliche Vereinsmitglieder und erklärte schließlich im Namen des Philologenvereins die grundsätzliche Bereitschaft, auch mit einem Landesschulrat Stoelzel zusammen zu arbeiten. In dieser Zeit fiel die Entscheidung der Stellenbesetzung zu Gunsten Stölzels.

Unmittelbar nach Wiederbeginn der Schulzeit führte der unterlegene OStD Bach zusammen mit Dr. Gronau und Dr. Rudolf Witte in einer Vereinssitzung am 5. August einen Beschluss herbei, mit der Landesschulbehörde nicht zusammen zu arbeiten und eine zuvor eingereichte Vorschlagsliste für Ämterbesetzungen zurückzuziehen. Die Vorstandsmitglieder legten darauf geschlossen ihre Ämter nieder.

In einer offenbar turbulenten Sitzung, am 15. August 1920, setzten sich die Gegner Stoelzels vollends durch. In den Vorstand des Philologenvereins wurden komplett Personen gewählt, die die Linie Bach unterstützten: Dr. Rudolf Witte, Braunschweig und Prof. Dr. Ernst Witte, Blankenburg. Zudem wurde der Beschluss gefasst, wonach Mitglieder des Philologenvereins, sollte an sie eine Berufung in das Landesschulamt ergehen, sie dieses ablehnen.

Als die Mitglieder des Philologenvereins StR Saftien, StDir. Dr. Sievers und die Leiterin der Wolfenbütteler Schlossanstalten Frau Hasse diesem Beschluss nicht folgten und eine Berufung in das Landesschulamt annahmen, erhielten die beiden Männer vom Vorstand des Philologenvereins ein Schreiben (Datum 2.9.1920), in dem ihnen der Ausschluss aus dem Philologenverein mitgeteilt wurde. Frau Hasse, zugleich Leiterin der größten Privatschule, unterstellte man, sie sei zu der Annahme gepresst worden und legte ihr nur den Austritt aus dem Philologenverein nahe.

Landesschulrat Stoelzel zitierte darauf den Vorstand des Philologenvereins in seine Behörde (6.9.1920) und wies nicht nur auf die Unrechtmäßigkeit dieser Maßnahme hin, sondern entzog dem Philologenverein mit einer Verfügung [V3088] die Anerkennung als Berufsvertretung. Gegen die Verfügung legte der Philologenverein am 8.1.1921 schriftlich Widerspruch ein. Erst im November 1921 nahm das Ministerium für Volksbildung (Grotewohl) dazu Stellung.

Hans Witte war unzufrieden mit der konservativen Wendung im Philologenverein. Insbesondere wegen der Verweigerung einer Zusammenarbeit mit der Landesschulbehörde erließ er schließlich am 14.3.1921 einen allgemeinen Aufruf zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft, die die Interessen der Lehrer gegenüber der Landesschulbehörde vertreten sollte. Nachdem die Arbeitsgemeinschaft mehrfach getagt hatte, gab man sich am 30. August 1921 als Braunschweiger Philologenbund den Vereinsstatus: „Der Br.Ph.B. übernimmt in aktiver uneingeschränkter Mitarbeit mit den Behörden die Aufgaben, welche der Br. Philologenverein zurzeit nicht leistet.“ Zum 1. Vorsitzenden wird Hans Witte gewählt.

Im Oktober 1921 fand unter Leitung Stoelzels eine Versammlung statt, um die Verhältnisse mit dem Philologenverein zu erörtern. Eingeladen war der Vorstand des Philologenbundes (Hans Witte) sowie des Vereins der Studienassessoren und Studienreferendare. Es wurde beschlossen mit dem Philologenverein in „Ausgleichsverhandlungen“ einzutreten. Diese wurden dann auch eingeleitet, endeten aber ohne Annäherung der Standpunkte im Streit. Für Witte war das Scheitern der Ausgleichsverhandlungen Grund genug, den Philologenbund nun vollends zum Unterstützer der sozialdemokratischen Schulreformen zu machen, beispielsweise die drei übernommenen Schularten Gymnasium, (Reform=)Realgymnasium und Oberrealschule zu einer so knapp wie möglich gegliederten Einheitsschule zusammenzufassen: „Der Braunschweigische Philologenbund hat von jeher nach Vereinheitlichung des Schulwesens gestrebt…“

Witte verteidigte die Eigenständigkeit des Philologenbundes, auch nachdem sich Heinrich Jasper in den Streit mit dem Philologenverein einmischte und am 4. Juni 1922 für eine sofortige Beilegung des Streites und Wiederanerkennung als Standesvertretung der Gymnasiallehrer plädierte; alsbald auch der Philologenverein einlenkte. Am 21.11.1922 teilt der Vorsitzende des Philologenvereins Dr. Rudolf Witte mit, dass der Verein sich ab Winter wieder zu regelmäßigen Sitzungen zusammen findet.

Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold

Witte hatte sich nach 1918 mit seinen öffentlichen Äußerungen immer mehr den Positionen der SPD genähert und trat schließlich 1921 in die Partei ein. Innerhalb der SPD erfuhr er Respekt und Anerkennung und wurde zu einem einflussreichen politischen Meinungsbildner.

Beseelt von der Vorstellung demokratischer Staatsstrukturen und voller Sorge um die Zukunft der republikanischen Verhältnisse, dessen Wanken sich in immer stärker aufkommenden Aktivitäten radikal politischer Gruppierungen andeutete, unterstützte Hans Witte trotz seiner schwierigen gesundheitlichen Lage aktiv das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold.

Im Februar 1924 von Mitgliedern der SPD, der Deutschen Zentrumspartei, der Deutschen Demokratischen Partei sowie Gewerkschaftsvertretern auf einer Konferenz in Magdeburg gegründet, beteiligte er sich in Braunschweig und in Wolfenbüttel maßgeblich an der Gründung von Ortsgruppen. Am 10. August des Jahres fand in Braunschweig, im Lokal Holt’s Garten, die Verfassungsfeier der Ortsgruppe mit Fahnenweihe statt. Hans Witte übertrug man die Aufgabe, zu dieser Veranstaltung die Festrede zu halten, was er auch eindrucksvoll tat. Zur Fahnenweihe textete und komponierte er zwei patriotische Lieder, die von einem Männerchor einstudiert und vorgetragen wurden. Am 13./14. September gründete sich auch in Wolfenbüttel eine Ortsgruppe des Reichsbanner. Auch hier war Witte der Festredner.

Der plötzliche Tod

Man wusste um die gesundheitlichen Beeinträchtigungen Wittes und die damit verbundenen Schmerzzustände, die er manchmal nur schwer verbergen konnte. Dennoch unerwartet für sein Umfeld, erlitt er in den Abendstunden des zweiten Februar 1925 eine Gehirnlähmung. Sie bedeutete bei dem 43jährigen den sofortigen Eintritt des Todes.

Unter großer Anteilnahme, insbesondere aus dem politischen Umfeld – beispielsweise gehörten Dr. Heinrich Jasper und Dr. Gerhard von Frankenberg zu den Trauergästen – fanden die Trauerfeierlichkeiten mit anschließender Urnenbeisetzung auf dem Auguststädter Friedhof an der Grauhofstraße statt.

 

[1] Ab Mai/Juni 1920 Landesschulrat für das höhere Schulwesen im Freistaat Braunschweig
Im Braunschweiger Adressbuch 1921: Gliesmaroder Str. 51 II; mit gleicher Anschrift seine verwitwete Mutter; ab/vor 1925 mit eigener Anschrift Roonstraße 23 III; letzter Eintrag im Braunschweiger Adressbuch 1929 (jetzt die Mutter darin nicht mehr aufgeführt).


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